Mittwoch, 17. Februar 2021

Kurzgeschichte: Und so geht alles hin



Es wird nicht mehr lange dauern, denke ich. Es wird schon kalt. Meine alten Gliedmaßen kann ich kaum noch bewegen ohne vor Schmerzen zu stöhnen. Und Kraft habe ich dazu sowieso nicht mehr. Draußen vor dem Fenster spielt sich ein Winter ab, wie ich ihn in meinen ganzen 82 Jahren noch nicht gesehen habe. Jedenfalls war es vor zwei Tagen so, als ich das letzte Mal die Kraft hatte, mich im Bett aufzurichten und aus dem Fenster zu schauen. Eine fast meterhohe Schneedecke liegt über den Straßen und Vorgärten. Und keine Fußspuren sind zu sehen, keine Schneisen werden in die Wege geschoben. Wer soll dass auch tun? Den meisten Menschen geht es wie mir. Zu alt, um sich unter diesen Umständen selbst zu versorgen, liegen wir mittlerweile in unseren Wohnungen und siechen in unseren eigenen Exkrementen vor uns hin. Niemand kommt um zu helfen. Schon seit Wochen. Die Welt wird stiller. Diese Schmerzen. Und verdammt. Dieser Hunger.

Es gibt niemanden mehr, der jünger als 70 Jahre ist. Es gibt niemanden mehr, der sich um uns alte Menschen kümmert. Es gibt auch kaum noch Nahrungsmittel. Es wird immer weniger produziert. Schon vor ein paar Jahren brachen die Lieferketten zusammen, weil die Menschen aufgrund ihres Alters viele Arbeiten nicht mehr durchführen konnten. Weltweit. Die öffentliche Infrastruktur hält schon lange niemand mehr instand. Und wer keine rüstigen Nachbarn hat, die sich noch selbstlos um einen kümmern, der stirbt. Allein. Im eigenen Dreck. Und meistens nichtmal wegen dem Alter allein. Die kleinsten Gebrechen werden nicht mehr versorgt. Die letzten Ärzte sterben gerade und Krankenhäuser gibt es auch schon lange nicht mehr. Die Schnittverletzung entzündet sich? Adieu, alter Mann! Hingefallen und Bein gebrochen? Ciao, alte Frau!

Meine Arme sehen aus wie dürres vertrocknetes Holz. Das da überhaupt noch ein Funken Leben drin ist, wundert mich. Ach, das Leben ist so zäh. Es will einfach nicht aus mir weichen. Erst war ich zu feige, mir selbst ein Ende zu setzen. Obwohl doch abzusehen war, was kommt. Jetzt würde ich es gern tun. Aber ich kann nicht mehr. Ich komme aus dem Siff nicht mehr hoch. Dieser Durst, dieser unfassbare Durst. Wann habe ich den letzten Schluck Wasser getrunken? Das müsste auch 2 Tage her sein. Ich hatte mir vor gut einer Woche noch einen Eimer mit geschmolzenem Schnee neben das Bett gestellt. Aus der Wasserleitung kommt nichts mehr. Aber vor zwei Tagen war auch auch der letzte Tropfen aus dem Eimer verdunstet. Ich sterbe hier, mein Gott, ich sterbe hier.

Es war alles gut gemeint damals. Die Pandemie hatte die Welt im Griff und als die Wissenschaftler die ersten eilig hergestellten und wirksamen Impfstoffe präsentierten, hatten die Menschen nach Monaten der Isolation endlich wieder Hoffnung auf ein baldiges normales Leben. Man wollte die Krankenhäuser und Pflegeheime entlasten und so plante man, die alten Menschen zuerst zu impfen. Und es funktionierte. Die Krankheit brach immer seltener aus, die Verläufe wurden weniger dramatisch. In der Folge wurden auch die unteren Altersgruppen geimpft. Zuletzt waren die Kinder dran. Nach gut 2 Jahren war die Bevölkerung weltweit immun gegen den Virus. Doch dann, nach weiteren knapp 3 Jahren traten erschreckende Veränderungen auf. Die Frauen im geburtsfähigen Alter wurden plötzlich unfruchtbar. Innerhalb weniger Monate traten überall auf der Welt keine Schwangerschaften mehr auf. Es wurden keine Kinder mehr geboren. Und als wäre der kollektive Schrecken, den diese Tatsache den Menschen versetzte, noch nicht genug, begannen die verbliebenen Kinder mit Einsetzen der Pubertät zu sterben. Die sich verändernde Hormonlandschaft in ihren Körpern bewirkte im Zusammenhang mit ihrem veränderten Immunsystem, dass der Körper von selbst anfing, schnell toxische Stoffe zu entwickeln, welche zum unmittelbaren Tod führten. Die Welt war in Schockstarre. Trotz größter Anstrengungen und Bündelung aller Kräfte und Ressourcen, konnte dieser Prozess nicht aufgehalten werden. Nach weiteren 16 Jahren gab es überhaupt keine Kinder mehr. Der langsame, siechende Niedergang der Menschheit begann. Ganz ohne Kriege, aber mit ständig präsenten Zukunftsängsten.

Matratze und Decke sind feucht vom Schweiß und von der Pisse. Die Kälte des Zimmers kriecht unaufhaltsam durch den nassen Stoff von allen Seiten in meine Knochen. Also werde ich erfrieren und nicht verdursten. Wieviele Stunden wird das dauern? Wie lange liege ich hier noch rum? Ich sterbe nicht friedlich. Niemand stirbt mehr friedlich. Einsamkeit herrscht. Die Menschheit verschwindet ganz still (und voller Angst). 

Nachwort

Diese kleine Geschichte möchte ich als das verstanden wissen was sie ist: Eine Geschichte. Entstanden in und aus der Zeit heraus in der wir leben. Keinesfalls soll die Geschichte die aktuellen Bemühungen um einen schnellen Impfschutz für die Bevölkerung in Frage stellen oder kritisieren. Das steht mir nicht zu, mir fehlt dazu jegliche Fachkenntnis. 

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